Der Brief, von dem ich wünschte, ich könnte ihn schreiben
von Gretchen Schmelzer _ Übersetzung aus dem englischen von Hannah Hartenberg
Mama, Papa
dieser Konflikt, in dem wir uns gerade befinden – ich brauche ihn.
Ich brauche diesen Kampf. Ich kann es nicht erklären, weil mir die Worte dafür fehlen, und weil das, was ich sagen würde, auch gar keinen Sinn ergeben würde. Ich brauche diesen Kampf, ganz verzweifelt.
Ich muss dich gerade hassen, und ich brauche, dass du das überlebst.
Ich brauche dich, um zu überleben, dass ich dich hasse und vielleicht sogar du mich manchmal hasst.
Ich brauche diesen Konflikt, auch wenn ich ihn hasse.
Egal, worum wir kämpfen: Schlafenszeit, Hausaufgaben, schmutzige Wäsche, unordentliches Zimmer, ausgehen, zu Hause bleiben, weggehen, nicht weggehen, Familienleben, Freund, Freundin, keine Freunde, schlechte Freunde…
Ich muss mit dir über diese Dinge streiten können, und du musst gegenhalten.
Ich brauche dich dringend, um das andere Ende des Seils zu halten.
Bitte halte daran fest, während ich an meiner Seite zerre und versuche,
Halt in dieser neuen Welt zu finden, in der ich so verzweifelt nach meinem Platz suche.
Früher wusste ich, wer ich war, wer du warst, wer wir waren. Jetzt weiß ich es nicht mehr. Im Moment suche ich meine Grenzen, und manchmal kann ich sie nur finden, indem ich dich wegstoße. Alles, was mich bisher getragen hat wegzustoßen, erlaubt mir, es neu zu entdecken.
So spüre ich, dass ich existiere, und für diesen Moment kann ich wieder atmen.
Ich weiß, du hättest mich lieber wieder als dieses süße Kind, das ich einmal war.
Ich weiß das so genau, weil auch ich dieses Kind schmerzlich vermisse.
Und manchmal ist diese nostalgische Sehnsucht das Schmerzhafteste für mich.
Ich brauche diesen Kampf, um zu erleben, dass meine Gefühle,
egal wie schlimm oder übertrieben sie sein mögen, dich und mich nicht zerstören werden.
Ich brauche dich, damit du mich auch dann liebst, wenn es mir am schlechtesten geht – sogar wenn es den Anschein hat, als würde ich dich nicht mehr lieben.
In diesen Momenten brauche ich, dass du dich selbst und mich für uns beide liebst,
um unser beider willen.
Es ist so schrecklich, nicht geliebt zu sein und als Bösewicht abgestempelt zu werden.
Genau so fühle ich mich gerade innerlich. Was ich jetzt von dir brauche, ist, dass du das alles aushältst, und wenn du Hilfe brauchst, dass du sie dir von anderen Erwachsenen holst, denn ich kann sie dir im Moment nicht geben. Wenn du all deine erwachsenen Freunde zusammentrommeln willst, um ein “Wie-überleben-wir-die-Pubertät-unserer-Kinder-Wut-Fest” zu feiern, ist das für mich völlig in Ordnung. Auch wenn du hinter meinem Rücken über mich redest, ist mir das egal.
Nur, bitte, gib mich nicht auf. Gib nur den Kampf um mich nicht auf. Das ist es, was ich brauche.
Dieser Konflikt wird mich lehren, dass mein Schatten nicht größer ist als mein Licht.
Dieser Konflikt wird mich lehren, dass schmerzliche Gefühle nicht das Ende einer Beziehung bedeuten.
Dieser Konflikt wird mich lehren, auf mich selbst zu hören, auch wenn es andere enttäuschen mag.
Dieser besondere Konflikt gerade wird vorübergehen. Wie jeder Sturm wird er sich legen. Ich werde ihn vielleicht vergessen und du wirst ihn vergessen. Und dann wird er wiederkommen. Und ich werde dich wieder brauchen, um mich wieder an dein Seil zu klammern. Ich werde das immer und immer wieder brauchen, jahrelang.
Ich weiß, dass für dich nichts innerlich Befriedigendes in dieser Aufgabe liegt.
Ich befürchte sogar, dass ich dir wahrscheinlich nie dafür danken werde. Womöglich werde ich nicht einmal erkennen, welche Rolle du darin gespielt hast. Wahrscheinlich werde ich dich sogar für all das kritisieren. Es scheint, als ob nichts, was du tust, jemals ausreichen wird. Und doch: Ich verlasse mich ganz und gar auf deine Fähigkeit, dem Konflikt standzuhalten.
Egal, wie sehr ich mich widersetze, egal, wie sehr ich schmolle. Egal, wie sehr ich mich in Schweigen hülle.
Bitte lass das andere Ende des Seiles nicht los!
Und wisse einfach, dass du gerade die wichtigste Aufgabe erfüllst,
die irgendjemand auf dieser Welt jetzt für mich tun könnte.
In Liebe, dein Teenager